Lasst ihn leiden

Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan im Solokonzert in der Columbiahalle

Jens Balzer

Herrliche Hitze an diesem Abend, schweißtreibend gewitterschwangere Schwüle. Schon nach wenigen Takten war der sehnige Sänger - verschwitzt und am ganzen Körper ölig glänzend verklebt - bereit, sein lästiges enges Hemdchen hinter sich zu werfen und den Rest des Abends barbrüstig über die Bühne zu wirbeln. Wunderbar! Nicht nur, weil Dave Gahan vorne wie hinten und von oben bis unten mit der fantasievollsten buntesten Bauernmalerei verziert ist. Wo sonst auch bekommt man noch einen Popstar zu sehen, der so knackig und schlank wirkt - und zugleich so unprätentiös untrainiert und, jahrelangen Heroindrückens halber, das nötige Quäntchen ungesund? Allenfalls ein klitzekleines Frühlingsröllchen rund um den Nabel umrankt heute die Gahan schen Hüften: Froh, wer das mit 41 Jahren noch von sich behaupten kann.

Was macht man nun mit solch einem Körper, wenn man ihn schon einmal besitzt? Man lässt ihn am besten leiden. Die größte Zeit, die wir mit Dave Gahan als Sänger und als Poser erlebten, fällt in die Industrial-/Gothic-/SM-Phase seiner Band Depeche Mode, zirka Mitte bis Ende der achtziger Jahre. Gegen deren gewaltiges Maschinengeschnarr und -gedengel erzog Gahan damals seiner (im Frühwerk noch fistelnden) Stimme die bis heute charakteristische Kälte und Schneidigkeit an; bei Konzerten ließ er sich von den Druckwellen der Musik wie ein Gekreuzigter in den Zuschauerraum drängen. Der schwül-metallene Leidenssound, der Depeche Mode trotz aller Kompromisse mit dem Hitparaden-Mainstream ihre besondere seltsame Erotik bewahrte, verdankt sich wesentlich seinen Märtyrerqualitäten.

Mit dem Soloalbum "Paper Monsters", das Gahan am Dienstagabend in der Berliner Columbiahalle vorstellte, hat er sich nun als zufriedener Bandleader ins Zentrum einer eher traditionellen Rock n Roll-Band zu stellen versucht - mit sicht- und hörbaren Unsicherheiten, zumal die Band um den (auf der Platte auch als Arrangeur und Produzenten wirkenden) Siouxsie-Sioux-Gitarristen Knox Chandler im Konzert eher unauffällig und uninspiriert vor sich hin spielte. Das galt für die neuen Songs ebenso wie für die Rock n Roll-Versionen alter Depeche-Mode-Stücke, die gegen Ende dargeboten wurden: So wirkte das Arrangement, in dem Gahan und Chandler "Personal Jesus" aufführten, ungleich indifferenter und fantasieloser als jenes, das Rick Rubin unlängst für Johnny Cashs Coverversion eingerichtet hat.

Aber die Dave-Gahan-Fans waren ja auch gar nicht gekommen, um sich neue Songs oder alte Songs in interessanten Arrangements anzuhören. Sondern um Dave Gahan auf seinen wunderschönen wunden Körper zu schauen und mit ihm glücklich zu leiden; und als Gahan der - nach langem Zögern immerhin in den Zugaben frenetisch entrückten und wogenden - Menge "Never Let Me Down Again" schenkte, spürte man doch noch, wie tief sich der Schmerz dieser Stimme dereinst in die Ohren und Seelen geschnitten haben muss. Das war ein sehr schöner Moment. Aber ach, er war auch so kurz.

Berliner-Zeitung

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