Dave Gahan


Guten Tag, ich will mein Leben zurück [22.05.03]
Elektro Gitarre Pop

Einigen Menschen muss es erst mal so richtig dreckig gehen, bevor sie sich veranlasst sehen, Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen. Wenn man dazu noch mit einer hohen Leidensfähigkeit ausgestattet ist, kann der Showdown sogar recht heftig werden. Dave Gahan, Frontmann von Depeche Mode, zum Beispiel hat an seinem Rockstar-Lebensstil bis zum klinischen Tod festgehalten - dann aber auch die Lehren aus dem Vorfall aus dem Jahr 1996 gezogen. Seitdem versucht er sein Leben in kleinen Schritten neu zu ordnen.

Die Aufnahmen zu Depeche Modes "Ultra"-LP 1997, die Rückkehr ins Arbeitsleben sozusagen, waren ein erster Schritt. Danach folgte die "Singles"-Tour, bei der Gahan zum ersten Mal seit Jahren ohne Einfluss von Drogen auf die Bühne ging. Parallel dazu ordnete Gahan sein Privatleben neu. Er heiratete ein drittes Mal, zog nach New York, wurde erneut Vater. Und auch als Künstler begann er sich neu zu entdecken, Ängste über Bord zu werfen und eigene Songs zu schreiben. Schon zu den "Ultra"-Aufnahmesessions brachte Gahan Songs mit, die es dann aber nicht auf die Platte schafften.

Jetzt, sechs Jahre später, liegt das Solodebüt des Sängers vor, das Gahans Entwicklung vom klinisch toten Junkie zu einem ausgeglichenen Menschen auf mehrfache Weise dokumentiert. Kompositorisch zwar noch längst nicht so ausgereift wie das Oeuvre seines Kollegen Martin L. Gore, ist "Paper Monsters" dennoch eine beachtliche Leistung. Textlich liefert es eine sehr persönliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung seines Lebens. Musikalisch ist es der Versuch, möglichst alles einmal auszuprobieren. Und darüber hinaus versucht Gahan auch seine Vocalskills weiter auszubauen. Einziger Wermutstropfen ist gleich der Opener "Dirty Sticky Floors", der als Song wenig mehr als ein Bluesschema zu bieten hat, mit seinem Stadionrock-Dancegroove enttäuscht und mit vorhersehbaren Gitarrensounds daherkommt.

Ich hoffe, du verzeihst mir meine Ehrlichkeit, aber bei meinem ersten Hören von "Paper Monsters" war ich von "Dirty Sticky Floors" enttäuscht. Nun ist der Song ja nicht unbedingt repräsentativ für die Platte, steht aber trotzdem weit vorne und wird auch noch vorab ausgekoppelt. Warum legst du so viel Wert auf ausgerechnet diesen Song?

Weil ich ihn mag. [lacht] Und weil ich ihn für einen recht kraftvollen Einstieg halte. Ich schreibe meine Songs so, dass ich das Gefühl habe, ich könnte sie auch performen. Ich will das alles nicht zu kompliziert machen oder zu schwer zugänglich. Ich will, dass da eine Energie spürbar wird und dass man sich keinen Kopf machen muss, was wohl gemeint sein könnte. Es sollte ehrlich sein. Dieser Song hat eine bluesy Stimmung, wahrscheinlich von solchen Leuten wie den Stooges oder den Beggars-Banquet-Rolling-Stones oder dem frühen Bowie beeinflusst. Ich wollte mit dem Song beginnen, weil er textlich den Anfangspunkt markiert, an dem ich das Gefühl hatte, ich müsste darüber schreiben, wie ich mich fühle.

Wann war das?

[überlegt lange] Das fing alles so nach der "Singles"-Tour 1998 an, die wir mit Depeche Mode gemacht haben.

Es hieß ja, dass du schon zur "Ultra"-LP einige Songs geschrieben habest ...

Das stimmt. Von diesen Songs habe ich einen aufgenommen, er ist aber nicht auf dem Album. Er wird wahrscheinlich eine B-Seite werden, er hat auch dieses bluesy Feeling. Es gab auch mal einen Song, den ich Martin während der Aufnahmen zu "Ultra" vorgespielt hatte, der ihm auch gefiel. Er hieß "The Ocean Song". Wir nahmen ihn dann auf, und für eine Zeit lang sah es auch so aus, als würde er auf das Album kommen. Dann hatten wir eine Diskussion über das Thema und die Richtung des Albums, und Andrew Fletcher, Martin und unser damaliger Produzent Tim Simenon entschieden, dass der Song nicht zur Platte und dem Thema passen würde. Ich dachte, dass das Bullshit war, dass sie einfach nur Angst hatten, die Sache würde zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenken. Was ziemlich bekloppt ist, aber na ja ... Ich will Musik machen, die ein Gefühl evoziert. Auch wenn es das Gefühl ist, dass du sie nicht magst. Ich will kein Album machen, dass deine Erwartungen erfüllt. Depeche Mode haben immer Gitarren verwendet. Und ich mag an Instrumenten sehr, wenn sie von Menschen kommen. Ob das nun ein Sample ist oder nicht, es sollte diese Energie daran hängen, die von einer Person kommt. Als Knox Chandler [Co-Autor der Platte] und ich "Dirty Sticky Floors" schrieben, spielte Knox den Gitarrenpart, und ich habe mir dazu den Gesang überlegt. Da war diese Energie in dem Moment, die ich transportieren will. Und vom Text her ist es sehr autobiografisch.

Ich vermute, dass es eine neue Erfahrung ist, dass du dich nicht mehr hinter den Songs und Texten einer anderen Person verstecken kannst.

Es ist jetzt unmöglich, sich zu verstecken.

Das wird dir bei deinen Liveauftritten sicher noch einen weiteren Kick geben, oder?

Ja. Und außerdem bin ich nun auch viel besser in der Lage, meine Rolle in Martins Songs zu sehen. Ich habe mich bisher immer wie ein Betrüger gefühlt. Jetzt aber fügt sich alles zusammen. In Zukunft muss ich das Gefühl haben, dass man meinen Ideen genauso viel Respekt entgegenbringt, wie ich ihn Martins Ideen entgegenbringe.

Das bedeutet, dass du dich als Musiker und Sänger selbstbewusster fühlst?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe festgestellt, dass ich die Fähigkeit habe, Melodien und Ideen zu empfangen und weiterzugeben. Ken Thomas, der das Album produziert hat, sagte während der Aufnahmen immer wieder, ich solle mal etwas langsamer arbeiten, weil ich zu viele Ideen hatte. Ich hatte immer wieder einen Verbesserungsvorschlag, wollte hier noch was probieren und da noch was machen ... Ken hat aus der ganzen Sache das Tempo genommen, hat sich vieles angehört und ist die Sorte Produzent, die von dir erwartet, dass du performst. Wie simpel oder naiv eine Idee auch sein mag - ihm ist es wichtig, dass sie von dir kommt und es nicht etwas ist, das eine Maschine für dich kreiert hat.

Ich vermute, dass es vielen Leuten, die ihre erste Platte aufnehmen, so geht wie dir. Sie wollen allen beweisen, was sie können. Sie versuchen so viele Ideen wie möglich einzubringen, um ihre Fähigkeiten zu demonstrieren.

Am Anfang war das sicher ein wenig so, wie du es beschreibst. Aber als Ken, Knox und ich langsam zu einem Team wurden, verflog das. Uns wurde nach vier Wochen klar, dass diese Platte ein Eigenleben entwickelt hatte. Wir mussten einfach nur da sein. In den ersten drei Wochen hatten wir versucht, die Platte in eine bestimmte Richtung zu schieben. Wir spielten als Liveband zusammen, performten viel, es gab eine Menge Energie - aber die Persönlichkeit fehlte. Daniel Miller von Mute hörte sich das damals an und unterstützte mich sehr. Er merkte an, dass es wichtig sei, dass meine Persönlichkeit auf dem Album durchkomme - was auch immer das war. Es sollte real sein und ehrlich, sodass es eine Muteplatte werden konnte.

Könntest du vielleicht sagen, wie du auf den Titel "Paper Monsters" kamst?

Der Titel entstand während der Aufnahmen des Albums. Mir wurde klar, dass ich viele Ängste in meinem Leben hatte, die mich daran hinderten, mich weiterzuentwickeln. Die Angst davor, sich zu verändern. Diese Angst war aber nicht real. Sie war da, aber ich glaube inzwischen, dass wenn du dich nicht weiterbewegst, dich nicht als Musiker neuen Herausforderungen stellst oder du dich den Ideen und Interpretationen anderer Leute verschließt - dass die Welt, in der man leben kann, zu klein wird. So empfinde ich das jedenfalls.

Würdest du sagen, dass das nicht nur auf Musiker zutrifft, sondern auch auf Menschen an sich?

Klar, wenn du dich nicht weiterentwickelst, wenn du nichts versuchst und keine Risiken auf dich nimmst, um etwas anderes in deinem Leben zu versuchen - für mich sowieso -, dann wird das Leben hoffnungslos und vorhersehbar und [lange Pause] - Angst einflößend. Ich habe festgestellt, dass ich die einzige Person bin, die die Kraft hat, solche Veränderungen in meinem Leben vorzunehmen. Ich habe mal gelesen, dass Miles Davis gesagt haben soll, dass man, wenn man sich als Musiker nicht selbst ständig herausfordert, man sich nicht immer wieder mit neuen Leuten umgibt, nicht wachsen kann. Jetzt kann ich verstehen, was er meint. Als ich das damals zum ersten Mal gelesen habe, habe ich es noch nicht verstanden.

Weißt du noch, wann das war?

Ich denke, so vor zehn Jahren.

Auffällig ist, dass Martin auf seiner Soloplatte noch elektronischer geworden ist, als es schon die "Exciter" war. Du hingegen scheinst Wert darauf zu legen, möglichst viele verschiedene Stile auszuloten.

Es langweilt mich einfach, nur in einem Gebiet zu bleiben. Ich finde sowieso, dass es elektronische Musik gibt, die inzwischen schon so traditionell rüberkommt wie Gitarrenmusik. Ich habe mir gestern Abend einen Remix von "Dirty Sticky Floors" angehört, den jemand gemacht hat - und er hat mich kalt gelassen. Es waren nur Clicks'n'Cuts. Es war so ...

Vorhersehbar?

Vorhersehbar. Ich war echt gelangweilt. Depeche Mode haben da sicher auch eine Verantwortung, dass solche Sachen sich weiterbewegen. Und einiges davon ist auch großartig, versteh mich nicht falsch. Eine Band wie Sigur Rós zum Beispiel hat die Fähigkeit, unorthodoxe Sounds in so einfach erscheinender Weise zu verwenden und dabei diese unglaubliche Energie freizusetzen. Dasselbe trifft auch auf "Kid A" von Radiohead zu, wo großartige Musiker die Technologie benutzt haben. Ich denke, dass eine große Gefahr von Technik ausgeht, wenn man ihr erlaubt, einem die Aufgaben abzunehmen. Dann wird Musik so leblos, sie hat dann keine Energie.

Das ist schon komisch, so etwas aus deinem Mund zu hören, schließlich waren das die Vorwürfe, die man Depeche Mode immer gemacht hat.

Ein wenig kann ich das inzwischen nachvollziehen, letztendlich aber haben wir unsere Sachen damals so roh aufgenommen, da wir so einfache Ideen hatten und die Technologie auch längst nicht so ausgereift war. Damals war man immer noch auf seine Vorstellungskraft angewiesen. Heutzutage kann es gut sein, dass jemand nur wenig Ideen hat, aber etwas erschaffen kann, das passabel ist. Das mag für manche Leute okay sein, für mich ist es das nicht. Ich finde das langweilig.

Lass uns noch mal zurück zu der LP kommen. Meiner Meinung nach sind die ersten Zeilen des letzten Songs "Goodbye" die wichtigsten auf der Platte. Du singst da: "It isn't very hard to see from where I stem, there's noone to blame. I opened up my eyes to see the world is so much pleasure not pain. We're changing and it's hard for me to stay the same."

Ja.

Wie? Die Antwort ist einfach "Ja"?

Ja, es stimmt. [lacht] Die Zeilen fassen alles noch einmal zusammen, darum wollte ich den Song auch am Ende der Platte haben. Ich kann einfach nicht mehr an einem Ort bleiben ... Aus Schmerz heraus kannst du, wenn du Glück hast, etwas Kreatives machen. Manchmal bleibt man aber einfach im Schmerz stecken. Vielen Leuten vor mir ist das passiert. Und vielen Leuten nach mir wird das auch passieren. Es ist so wie das, was gerade mit diesem Krieg in der Welt passiert. Da wird Menschen so viel Leid zugefügt. Aber ich muss einfach glauben und hoffen können, dass wir wieder kreativ werden und in Frieden leben können. Das ist ein Ziel, was ich zu erreichen versuche. Es ist schwer, da ich glaube, dass wir mit Angst regelrecht bombardiert werden. Da ich selbst schon ganz gut darin bin, mir ständig Ängste einzujagen, brauche ich nicht noch von außen Leute, die mir sagen, ich hätte gefälligst in Angst zu leben. Aber da passiert in mir gerade eine Veränderung, dahin gehend, dass ich das Leben inzwischen optimistischer sehe und auch am Leben teilhaben möchte. Ich möchte etwas zurückgeben, das diese kreative Energie in sich hat. Bis zu einem bestimmten Grad habe ich mich in den vergangenen Jahren immer etwas verkrüppelt gefühlt. Dass ich einen bestimmten Punkt in meinem Leben erreicht hätte, wo ich alles schon gesehen und gemacht habe. Vor fünf Jahren habe ich mich tatsächlich so gefühlt: "Scheiß auf den ganzen Kram", war meine tägliche Einstellung. Aber wenn man der Welt die Tür vor der Nase zuschlägt, dann wird dein eigenes Leben soooo klein. Und so sehr du auch versuchst, deine kleine, geschäftige Umgebung zu schaffen - wenn man aber, oder besser gesagt: Wenn ich keinen Austausch mit der Außenwelt habe, dann kriege ich Angst.

Glaubst du an ein Schicksal? Oder nennen wir es lieber nicht Schicksal. Glaubst du daran, dass Dinge letztendlich doch so kommen, wie sie sollen? Damit meine ich nicht, dass man zu Hause auf dem Sofa sitzen und erwarten kann, dass einem alles vor die Füße fällt. Sondern dass man sich bemüht, sein Leben zu regeln, und dann am Ende alles so rauskommt, wie man es wollte?

Genau. Am Ende kommt immer etwas dabei rum - es muss aber nicht notwendigerweise das sein, was du dir vorgenommen hast. Ich habe in den vergangenen fünf Jahren gelernt, dass meine Ideen nicht unbedingt die richtigen sein müssen. Aber wenn ich es so mache, wie du es gerade geschildert hast, wenn ich mich bemühe, dann kommt am Ende ein Ergebnis dabei rum. Nicht zwangsläufig das, was ich wollte, aber der Versuch macht es wett. Und der Entschluss zu handeln.

Ich weiß nicht, ob du die Pet Shop Boys hörst, ich tue es, und sie haben diesen Song "Being Boring" ...

Den kenne ich ...

Also, der Song hat diese bemerkenswerte Zeile: "I never dreamt that I would get to be the creature that I always meant to be." Würdest du heute sagen, dass du die Person geworden bist, von der du dir immer gewünscht hast, sie einmal zu sein?

Ich habe mich vielmehr selbst überrascht. Und es ist jetzt tatsächlich so, dass ich zwar keine Ahnung habe, an welchem Ort ich mich zur Zeit befinde - aber ich bin definitiv am richtigen Ort. Ich schwebe irgendwie auf einer Wolke und habe das Gefühl, wahre Freiheit zu erleben. Das ist nichts, was ich durch Erfolg haben kann oder durch eine Freundin oder so. Ich muss das in mir selbst finden. Ich musste feststellen, dass das Leben eher ein "Insidejob" ist als ein "Outsidejob" ... [lacht] Und das ist der schwierigste Teil, dass man lernen muss, sein wahres Ich nach draußen zu tragen, auch auf die Gefahr hin, dass Leute es nicht mögen könnten. Man muss das Risiko aber eingehen, denn irgendwann stellt sich einem die Frage, ob man nicht einfach nur versucht, anderen Leuten zu gefallen. Und immer, wenn ich das tue, dann fühlt es sich einfach nicht mehr gut an. Ich bin damit lange Zeit klargekommen, aber immer nur aus selbstsüchtigen Gründen.

Ich verstehe "Paper Monsters" auch als Botschaft an deine Familie und deinen engsten Freundeskreis. Du scheinst ihnen sagen zu wollen: "Macht euch um mich keine Sorgen mehr. Mir geht es gut, und so wird es auch in Zukunft bleiben."

Ja, stimmt.

Haben diese Menschen denn die Platte schon gehört und die Botschaft auch verstanden?

Also, meine Familie war während des ganzen Prozesses sehr involviert: beim Schreiben, beim Aufnehmen der Demos, einfach bei allem. Und besonders meine Frau war eine große Hilfe, da das alles Teil meines Wachstums ist, und dabei unterstützt sie mich sehr, wie schwer das auch manchmal sein mag. Wachsen kann schmerzhaft sein. Da war dieser Abschnitt in meinem Leben, wo ich zu wachsen aufgehört hatte, und das ist sehr schmerzhaft gewesen. Schließlich kann man das Leben nicht daran hindern, dass es um einen herum passiert. Es gab diesen Punkt, wo um mich herum so viele schlechte Sachen passierten, dass ich nicht mal mehr hoffen konnte, irgendwann mal woanders anzukommen. So fühle ich mich heute nicht mehr, aber es hat lange bis hierhin gedauert - und viel Arbeit in Anspruch genommen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass meine Familie und meine Freunde Schwierigkeiten hatten, mir und dem Prozess zu vertrauen. Wobei ein Großteil der Aufgabe auch bei mir liegt: Dass ich lerne, mir und meinen eigenen Instinkten zu vertrauen.

Die Presseinfo zu "Paper Monsters" betont, dass die Geburt deiner Tochter im Jahr 1999 einen großen Einfluss auf die Platte gehabt habe. Soweit ich weiß, hast du ja auch einen Sohn ...

Ich habe zwei Söhne ...

Noch ein Grund zu fragen, was mit deiner Tochter so anders ist.

Ich denke, ich war einfach an einem anderen Ort. Ich kann es nicht genau erklären. Ich denke, ich war einfach in der Lage, sie anzunehmen - und musste mich nicht die ganze Zeit darüber sorgen, ob ich diese Verantwortung wirklich würde handhaben können. Ich sorge mich aber nicht mehr so richtig, da ich festgestellt habe, dass mir meine Kinder schon beibringen werden, wie ich ihnen ein Vater sein kann.

Und nicht umgekehrt?

Genau. [lacht]

Würdest du sagen, dass ihre Geburt dazu geführt hat, dass deine Wahrnehmung von Gefühlen - ich meine damit jede Art von Emotionen - eine ganz andere, größere Dimension angenommen hat?

Ja.

Ich frage das, weil ich diese Erfahrung gemacht habe, als meine Tochter vor einem Jahr geboren wurde. Ich habe festgestellt, dass mich Emotionen jetzt ganz anders erreichen und ich sie auch oft wesentlich stärker empfinde als früher. Ich habe mich nach dem Hören der Platte gefragt, ob es dir vielleicht ähnlich ergangen ist.

Das trifft ziemlich genau, was mir passiert ist. Und ich umarme, was meine Kinder mir geben, statt dass ich mich ständig sorge, ob ich es richtig mache. Das hilft mir sehr zu erkennen, dass alles andere nicht wirklich wichtig ist. Wenn du dein Leben damit verbringst, auf einen Ort zuzurennen, von dem du glaubst, dass er dir Erfüllung geben wird, dann wirst du meiner Meinung nach das Rennen verlieren. Aber wenn du versuchst, all das wahrzunehmen, was gerade um dich herum passiert ... Du musst nicht mal großartig steuern, du musst einfach nur da sein und aufmerksam sein. Gestern Abend sagte meine Tochter zu mir am Telefon: "Daddy, ich warte nur darauf, dass die Tür aufgeht und du nach Hause kommst." Das ist so simpel, aber es zeigt, dass Zeit und Entfernung für sie keine Rolle spielen. Sie lebt im Moment und kümmert sich nicht um ein Morgen und hat das Gestern schon wieder vergessen. Aber man tendiert dann doch dazu, Wände um sich herum aufzustellen, um Gefühle nicht rauszulassen oder um sich zu schützen. Ich tue das, um mich vor irgendetwas zu schützen. Es heißt immer, man müsse stark sein und sich soundso verhalten oder das und das machen und ein guter Ehemann sein ...

Wobei es meiner Erfahrung nach doch einfacher ist, solche Dinge einfach durch einen hindurch zu lassen, als sich letztendlich der ganzen Welt zu verschließen.

Ja, genau. Und uns Männern erzählt man ja sowieso immer, dass wir diese starken Stützen zu sein haben. Und auf der anderen Seite verlangt die Gesellschaft von uns, dass wir auch sensibel zu sein haben. Wir entwickeln uns, aber es ist eine schwierige Zeit.

Die Leute erwarten von einem, dass man zur Arbeit geht, die Kinder ins Bett bringt, dann den Abwasch macht ...

Morgens die Kinder noch zur Schule bringt ... Und abends fällt man nur noch aufs Sofa, macht den Fernseher an - jedenfalls ist es das, was ich mache. [lacht] Ich habe schon ewig keinen Film mehr bis zum Schluss durchgehalten. [lacht lauter] Aber das ist okay. Ich bin momentan so dankbar, dass ich mich gesund fühle, dass ich die Kraft habe, all das hier zu tun - und dann wieder zu meiner Familie zurückkehren kann.

Autor: Michael Krumbein

© BEYOND words 2003 - 2005